Beijing lan -Peking ist blau

Internationales Theaterprojekt, Uraufführung Beijing (VR China) 1997.

Konzept: Martin Gruber, Rainer Strecker, Tian Gebing, Xiao Ming.
Regie: Martin Gruber und Tian Gebing
Dramaturgie: Susanne Göße

Darsteller: Diao Haiming, Rainer Strecker, Tian Gebing, Viktoria Hauke, Liu Dan, Andrea Reiners, Ma Xiaoyong, Li Bin.

Fernsehdokumentation des Projektes unter dem Titel „Begegnungen in Beijing“ (Alexander Grasseck) gesendet bei 3SAT und ARTE.

„Beijing lan – Peking ist blau“ ist ein Experiment über die kleine, unspektakuläre Gewalt, die Menschen überall sich und anderen tagtäglich antun. Über das Komische, das darin liegt. Über die Erkenntnis, dass genau dieses Komische eine Befreiung von Zwängen sein kann. Was im Alltag normalerweise unterdrückt wird, zeigt sich auf der Bühne und wird dort zu einer komplexen, bildhaften Zeichensprache verdichtet. Streng choreografierte Körperalphabete und Tänze, das Einstudieren von deutschen und chinesischen Liedern und Arien, deutsch, chinesisch und englisch gemischte Dialoge, die exakte Abstimmung von Schrittfolgen, Geste, Sprache und Musik in den einzelnen Szenen haben den Darstellern alles abverlangt.

Im Juli 1997 fliegt ein ganzer Theatertross von München aus nach Beijing: eine Sängerin, eine Tänzerin, ein Schauspieler, Regisseur, Dramaturgin, ein Komponist, Kostümbildnerin, Stage Manager und eine Filmcrew. Im Gepäck: schwere Manuskripte, Szenografien, Modelle, Ideen, Ungewißheit, wenig Geld. Am Flughafen werden sie vom chinesischen Teil der Crew empfangen: der chinesische Regisseur, Bühnenbildner, drei Schauspieler, Techniker, Beleuchter, Übersetzer, Betreuer. Sie alle werden die nächsten Monate Tag und Nacht zusammensein, zusammen arbeiten, zusammen essen. Die Proben müssen sofort beginnen, die Zeit ist knapp. Es ist der heißeste Sommer in Beijing seit vielen Jahren. Jeden Tag proben, neun, zehn Stunden bei sengender Hitze. Keine Privatsphäre, keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Jeder wird, was er ist: Die Masken fallen. Die Arbeit, die Enge, die Nähe, die Hitze: jeder kommt hier an seine Grenze, körperlich, seelisch. Jeder einzelne muß sie für sich überschreiten. Aus den bunt zusammengewürfelten Individuen entwickelt sich im Laufe der Arbeit eine Gruppe, in der kulturelle und individuelle Unterschiede, alltägliche Probleme und Ärgerlichkeiten unwichtig werden. Wichtig ist nur noch das gemeinsame Wollen, dieses Stück zu machen. Gegen alle Widerstände, trotzdem. Diese Intensität und Hingabe, dieses vollkommene Vertrauen aufeinander ist bei jeder Geste, bei jedem Blick auf der Bühne zu spüren.

Eine Demo-CD mit Ausschnitten aus der Premiere kann unter gruber-goesse@t-online.de bestellt werden.

Als ich klein war, ging ich oft Vögel fangen. Ich befestigte ein Feuerwerk am Arsch des Vogels, zündete es an und warf den Vogel in die Luft. Der Vogel fühlte sich unwohl, flüchtete zum Himmel und genoß das kurze Glück, wieder frei zu sein. Ich betrachtete den Funkenschweif am Vogelarsch.

Heute bin ich dieser Vogel. Ein Feuerwerk droht jeden Tag an meinem Arsch zu explodieren. ich muß fliegen, sonst stürze ich ab. Der Instinkt treibt mich zu fliegen. Ich weiß nicht, wer das Feuerwerk angezündet hat. Aber nur er weiß, wann das Feuerwerk explodiert. Soll ich fliegen oder nicht?

Es ist eine Falle, eine nur für dich gestellte Falle. Du kannst sie entdecken und ihr nicht entkommen. Du kannst ihr entkommen und sie nicht entdecken.

(Ma Xiaoyong, Schauspieler)

Er. Das ist natürlich alles ganz anders.
Sie. Das sagst du immer.
Er. Natürlich sag ich das immer. Aber du verstehst mich ja nie.

(Horvath: Stunde der Liebe)

 

turns north, bows twice
takes his place to wait
for two facing east and west
sets the mat for groom and stands.

(Rap, frei nach Chu Hsi: Family Rituals – Wedding)

What is there beyond the four Seas?
Just the same as what there is here in Chhi.
How can you prove that?

How do we know that there is not some outer universe of which our own is but a part?

These are questions which we cannot answer. Heaven and earth are material things and therefore imperfect.

(Liezi, übersetzt von Joseph Needham)

 

Zuschauerreaktionen (filmisch dokumentiert)

„Das Stück hat mich sehr bewegt. Fast wie Weinen am Anfang, eine tiefe Empfindung. Menschen geben sich untereinander so viel Druck. In dem Stück wird ausgedrückt, wie sich Menschen gegenseitig Druck geben, das passiert auch im wirklichen Leben. Das hat mich betroffen gemacht.“
(chinesische Zuschauerin)

„Ich halte es für ein sehr lohnenswertes Experiment. Ich bin froh, daß so etwas in China passieren konnte. Ich hoffe, es hat allen Beteiligten so viel Spaß gemacht wie den Zuschauern.“
(deutscher Zuschauer)

„Mir hat es sehr gut gefallen. Alle Materialien kommen aus dem alltäglichen Leben, das ist Spitze. Das ist ein bißchen neu für uns Chinesen, in China gibt es nicht viele moderne Theaterstücke. Das hat mich bewegt, daß viele Sachen, die im alltäglichen Leben unterdrückt werden, auf der Bühne ausgedrückt werden, z. B. die zwei Mal Schreien.“
(chinesischer Zuschauer)

„Ich habe vorher noch nie so etwas gesehen, nur gewöhnliche Theaterstücke. Das hat es in China noch nie gegeben. Im Stück sieht man eine große Entwicklung, das hat mich sehr berührt.“
(chinesischer Zuschauer)