Anstatt Rashomon

Uraufführung am Stadttheater Ulm 1998.

Autor: Susanne Göße
Regie: Martin Gruber

Darsteller: Sigrid Schnückel, Adelheid B. Strelick, Jan Gebauer, Norbert Entfellner

„Weiß ich, was war? Weiß ich, was wahr ist?“ Die Katastrophe liegt lange zurück. In der Erinnerung erscheint sie unwirklich, als sei alles einem anderen passiert. Mord? Vergewaltigung? Alle sind schuldig und jeder lügt. Vier Menschen auf der Bühne, vier Schicksale, vier Arten, der Wahrheit auszuweichen: Flucht ins Kindliche, Flucht ins Anklagende, Flucht ins Dagegensein, Flucht ins Über-allem-Stehen. Vier Menschen, die eines gemeinsam haben: Das Leben, das sie sich erträumt hatten, ist ausgeträumt. Was kommt, ist nur noch eine Entschuldigung, um sich selbst nicht in die Augen schauen zu müssen . Ein Leben anstatt eines Lebens.

„human beings cannot survive without lies“ (Kurosawa)

„Anstatt Rashomon“ ist eine Liebeserklärung an die Filme Kurosawas und an Japan. Inspiriert von Kurosawas Meisterwerk „Rashomon“ von 1951 verbinden sich Elemente des No-Theaters mit experimenteller, westlicher Avantgarde, japanische Schöpfungsmythen treffen auf westliche Logik. Strenge, ruhige Form ist das Prisma für großes, tragisches Schicksal.

Das Erste war die Leere. Und nichts war in ihr und nichts war außer ihr. Dieser Zustand war schön und mächtig. Aber das Schöne war nicht zu sehen und die Macht nicht zu spüren.

Das zweite war die Langeweile. Das Dritte war der Entschluß, alle Möglichkeiten in ihr auszuschöpfen bis zum letzten. So entstand die Fülle. Die Leere freute sich an ihrem Vollsein und beschloß, es zu schauen. So entstand die Ordnung.

Sie schied das Leichte und Schwere. Die erste Teilung. Das Leichte sollte Oben und das Schwere Unten sein. So entstanden Oben und Unten. Die zweite Teilung. Dann schied sie das Kleine und das Große, das Schöne und das Häßliche und ordnete es unter das Schwere Unten. Dann schuf sie das Ungeteilte, indem sie das Wesen des Großen und das Wesen des Häßlichen in eins zusammenfügte und es ordnete unter das Leichte Unten. Und sie schaute ihre Ordnung und freute sich daran.

Aber alle diese Dinge und ihre Ordnung waren in ihr und so fehlte zur Freude das Eigentliche, das ganz Andere. Und sie beschloß, etwas aus sich zu schaffen, das außer ihr sein sollte. So entstanden der Mensch und die Freiheit.
Die dritte Teilung. Der erste Fehler.

Warum? Warum ein ganzes Leben leiden für einen halben Tag? WARUM? Ein halber Tag und danach? Immer dieselben Fragen und immer keine Antwort. Keine Antwort, die Ruhe gegeben hätte. Keine Antwort, die ein Ende gesetzt hätte. Warum mein Leben? Warum nicht ein anderes? Schuld. Selbst schuld. Wer ist an einem Leben schuld?

Wollt alle leben, zuviel leben. Ein Ding sein unter den Dingen, unauffällig, dann fällst du nicht. Dann brauchst du nichts tun, die Dinge sind bei dir. Nichts tun und alles ist richtig.

Die leben wollen, die fallen auf. Die leben wollen, die fallen.

Was nicht will, das zwingt man, uns zwingt es ja auch, das Leben und die meisten in die Knie.

Ich wollte so viel, ich wollte es ja, ich wollte etwas ganz Ungewöhnliches. Ein Ereignis. Eines, für das es sich lohnt, morgens aufgewacht zu sein.

Ich wünschte mir etwas ganz Großes, Einmaliges. Einmalig. Ja. Nur ein Mal. Einmal wurde es wahr, ganz anders wahr. Nur ein Mal. Ich will nie wieder aufwachen.

Schau mich nicht so an. Dein Blick. So leer. Deine Augen. Dein Blick ohne Augen. Tot. Nicht wahr? Sei doch nicht tot. War ich das? Ich habe nichts vergessen, aber ich kann mich an nichts erinnern. Einmal nie wieder aufwachen. Ich bin nur da, um die Erde schwerer zu machen. Ohne mich wäre die Erde leichter, viel leichter.

Medienecho:

Göße erzählt ihre Erkundungen von Menschen, die auch im Danach nicht zueinanderkommen können, nicht linear, sondern bindet sie in eine philosophische Kosmologie ein. Ihre Texte sind wunderbar poetische Chiffren. Martin Gruber gelingt es in dieser Reduktion auf das Zeichen im Zuschauer eine große emotionale Teilhabe auszulösen.
Mit diesem Theaterprojekt haben Göße und Gruber dem Podium im Ulmer Theater ein Experiment zurückgewonnen, in dem sich westliches und fernöstliches Theater glücklich verbinden.

Die Deutsche Bühne 11/1998.

Ein philosophischer Text über den Anfang der Welt eröffnet das Spiel, das in der Konzeption von Susanne Göße immer wieder die Fragen nach den Möglichkeiten eines neuen Anfangs im Danach – in der Zeit der verlorenen Unschuld – philosophisch zu erkunden sucht. Die Texte erreichen dabei eine poetische Zeichenhaftigkeit … In seiner Regie stellt Martin Gruber ebenso zeichenhaft die Einsamkeit dieser vier Figuren aus, die in ihrer Verstrickung im Danach nicht zueinander kommen können. Emotionen werden nicht psychologisch begründet, sondern drücken sich durch kleine Gänge und Gesten aus. Trotzdem entsteht aus diesem scheinbar emotionslosen Spiel eine Expressivität und eine Atmosphäre, die einen großen Sog entwickelt.
Mit dieser Uraufführung haben Susanne Göße und Martin Gruber dem Podium des Ulmer Theaters die Funktion zurückgewonnen, zu dem dieser „schönste Theaterraum“ in der Bundesrepublik einmal entworfen war: dem künstlerischen Experiment.

Stuttgarter Zeitung vom 24.9.1998

„Rashomon“, das ist ein berühmter japanischer Film aus dem Jahr 1951. Anstatt Rashomon beginnt dort, wo der Film endet: nämlich bei der Katastrophe. Anstatt Rashomon oder: Wahrheit, verzweifelt gesucht. Am Anfang: Eine Leiche, ein Mord, eine Vergewaltigung, kurz: eine Katastrophe. In dem Theaterstück geht es vor allem um das Danach und um Subjektivität. Jeder erzählt seine eigene Wahrheit und die wird sich als Farce entlarven. Existentialistisches fast ganz in Schwarz auf spiegelglatter Hochglanzbühne.

Eigens für die Studiobühne des Ulmer Theaters inszenierten die Autorin Susanne Göße und der Regisseur Martin Gruber das minimalistische Stück. Zen oder die Kunst, aus so herausragenden Inspirationsquellen zu schöpfen. Philosophische Grundfragen werden da manchmal zu Wortspielereien verdreht und die machen Spaß und damit Sinn.

SWF 3-Fernsehen, Kultur Südwest vom 23.9.1998